HANNES SONNBERGER, 65

FÜHRUNGSKRÄFTE-COACH

Keep me searching

For a heart of gold

You keep me searching

And I'm growing old

Keep me searching

For a heart of gold

I've been a miner

For a heart of gold

– Neil Young, Heart of Gold

Hannes Sonnberger habe ich 2021 bei einer Veranstaltung des Business Circle in Berlin kennengelernt. Aufgefallen ist er mir, weil er wie ich im Vergleich zu den meisten anderen Teilnehmenden aus der Agenturszene Deutschlands schon älter war. Für mich war es weniger das Alter an sich, als seine ruhige und besonnene Art, die herausstach. Da musste einer nichts beweisen, und seine Anmerkungen waren treffend. Auf LinkedIn haben wir uns danach dann vernetzt, nichts außergewöhnliches nach solch einem Meeting.

Aufgefallen ist mir Ende 2023 dann ein Posting von Hannes, da war die Gang of Fifty schon gut ins Rollen gekommen, und ich bekam mehr und mehr Klarheit über die Richtung der Gang. Hannes zitierte einen 300 Jahre alten Satz, und das ist an sich schon bemerkenswert auf LinkedIn. Das machte ein Fenster für einen spannenden Ausblick auf und ich war sofort neugierig.

Unser Gespräch umspannte einen Bogen von vor 300 Jahren bis heute, von Wokeness über Cancel Culture bis zu Physiotherapeuten, die den Klimawandel leugnen, und es mündete in einem Creative Springboard für einen Dialog zwischen den Generation.

Ganz am Ende zeigte mir Hannes noch etwas: sein Tattoo auf dem Arm, eine strahlende Sonne über einem Berg – Sonnberger. Die Geschichte dahinter hat mich sehr berührt: Als Hannes mit Ende 50 zu einem Vorstellungsgespräch für eine spannende Führungsposition in London war (und bereits die Gespräche mit der Deutschland- und der Europa-Abteilung positiv absolviert hatte), sagte die HR-Chefin dort, dass sie sich beim besten Willen nicht vorstellen könne, dass Hannes in seinem Alter noch gut mit Jüngeren zusammenarbeiten könne, die zum Teil tätowiert sind und Löcher in den Ohrläppchen haben. Hannes erzählte ihr, dass in seinen Workshops unter anderem genau diese Jüngeren sitzen und zeigte ihr auf dem Handy ein Foto seines Sohnes, der bis zur Kinnlade tätowiert ist. Letztlich war es nicht mehr als ein versöhnliches Farewell. Danach berichtete er seiner mitgereisten Frau von dem Gespräch, sie machten sich ein schönes Wochenende in London, und zum nächsten Geburtstag bekam er von ihr als Geschenk ein Tattoo.

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GoF: Hannes, auf LinkedIn ist mir ein Post von Dir aufgefallen. Da ging es um „das liebevolle Annehmen des Andersseins“. Der Ursprung des Satzes liegt in der Zeit der Aufklärung und ist rund 300 Jahre alt.

 

Hannes: Die 300 Jahre sind ein ideales Stichwort, weil wir jetzt im Kant-Jahr sind, und ich bin ein leidenschaftlicher Verfechter und Anhänger der Aufklärung. Kant ist halt im deutschsprachigen Raum der wesentliche Repräsentant, und ich habe mich bereits über viele, viele Jahre mit dem Toleranzbegriff beschäftigt, da ist Kant natürlich ganz vorn dabei: „Toleranz ist das liebevolle Annehmen des Andersseins.“ Das ist so zeitgemäß wie noch nie. Und das macht mir Mut. Das gibt mir Kraft. Das ist aber auch etwas, das ich sehr gerne verteidige, denn es gibt durchaus zynische Bildungsbürger und -bürgerinnen, die kommen dann mit dem lateinischen Ursprung von Toleranz, nämlich tolerare, das heißt erdulden, ertragen. Das ist natürlich Unsinn und ein bisschen sehr kurz gesprungen, weil es ja bei der Toleranz, wenn man sie zeitgemäß und auch inhaltlich richtig versteht, nicht um das gerade noch aushalten geht. Es geht um Akzeptanz, auch um Beziehungsarbeit. Das ist mit Arbeit verbunden, durchaus anstrengend und es geht nicht so leicht. Diese Mühe wollen sich viele Menschen leider heute nicht mehr machen.

 

Wie würdest Du die Vorstellung von Toleranz auf die Beziehung zwischen Jüngeren und Älteren übertragen?

 

Ich bin ja schon 65 und dadurch ein recht authentischer Boomer. Und ich weiß, ich habe meine Schwierigkeiten mit der sehr jungen Generation. Wir ticken tatsächlich fundamental verschieden, da gibt es erstaunlich mühsam aufzufindende Schnittmengen, wo man sehr sich bemühen muss, um da aufeinander zugehen zu können. Die Beziehungsarbeit muss nur von beiden Seiten geleistet werden.

 

Beziehung bedeutet immer ein Aufeinanderzugehen von beiden Seiten, es fängt immer bei einem selbst an …

 

… genau, als zertifizierter Systemiker bin ich natürlich massiv darauf gedrillt, daran zu denken, dass wenn ich in dem Uhrwerk etwas ändern möchte, wo ich ein Zahnrad bin, muss ich mein Zahnrad als erstes drehen. Dann wird es auch Auswirkungen auf die anderen Zahnräder haben. Dazu bin ich ja auch absolut bereit. Ich sage nur ganz ehrlich, es fällt mir manches Mal schwer, wenn ich mit alter weißer Mann tituliert werde oder als Privilegienritter. Das ist einfach Unsinn. (Hannes ist seit Gesprächbeginn sehr gelassen, auch auf eine Art verschmitzt. An diesem Punkt aber ist ihm anzumerken, dass ihn das Thema packt).

Eine junge Autorin hat mal geschrieben, mit der Aufklärung sei es ohnehin nicht so weit her, weil letzten Endes habe sie nur privilegierten weißen Männern genützt. Also, da ist mir die Hutschnur gerissen. Das halte ich für unzumutbar und unerträglich, weil es eine Verunglimpfung ist und eine Vereinfachung, die einfach nicht mehr zulässig ist. So geht das nicht. Und da gehe ich dann auf die Barrikaden, weil das einfach Blödsinn ist. Aufklärung produziert Ergebnisse, aber keine Privilegien, weil sie erstmal …

 

… ihrem Wesen nach wertfrei ist und für alle und jeden gilt?

 

Aufklärung ist universell und nicht tribalistisch. Und da werde ich sehr, sehr wütend, wenn man in diese, ich möchte fast wirklich sagen, in die Grundlagen des Abendlands hineinspuckt, das ist nicht anständig. (Auch wenn Hannes das Thema offenbar packt, bleibt er dennoch immer zugewandt und besonnen. Als könne sich besagte Autorin jederzeit gerne dazusetzen und mitdiskutieren).

Da müssten wir uns schon die Mühe machen, alle, dass wir uns ernsthafter miteinander auseinandersetzen. Da möchte ich nicht verweilen auf dieser Ebene, da hat niemand was davon.

 

Die Autorin hat sich offenbar einen Aspekt herausgesucht, der ihr persönlich nahe geht. Einer der generellen Vorwürfe der jüngeren Generationen ist aber, dass die Älteren ihnen mit Kapitalismus und Gewinnstreben eine Welt am Abgrund hinterlassen haben und dass sie jetzt die Suppe auslöffeln müssen.

 

Das stimmt leider. Aber auch hier liegen die Perspektiven sehr weit auseinander. Das ist eine echte Kluft. Meine Kinder sind zwischen 28 und 37 Jahre alt, und natürlich diskutiere ich mit denen auch, was wir da angestellt haben. Die Unbekümmertheit, mit der wir in unserer Jugend leben durften, da ist natürlich auch viel Blödsinn passiert. Also, ich hatte noch das Glück, Sex zu haben, ohne an Aids denken zu müssen. Gab es nicht. Das Schlimmste, was meiner Generation in unseren jungen Jahren passieren konnte, war ein Tripper. Dann bist du zum Arzt gegangen, der hat die Spritze geholt und die Sache war erledigt. Wir hatten diese Unbekümmertheit.


„Ich möchte nicht mit der Moralkeule verfolgt werden, wenn ich mit meiner wunderbaren Frau vierzehn herrliche Tage auf Madeira verbracht habe.“


Natürlich hätten wir darüber nachdenken müssen, was passiert denn, wenn wir uns jedes Jahr immer größere Autos zulegen und die die Luft verpesten? Ich weiß noch, als ich zwölf war, hatten wir Referate im Gymnasium zum Thema Waldsterben. So unbekannt war das also schon damals nicht. Aber wir haben es in den Griff gekriegt. Das Waldsterben ist durch ganz konkrete Maßnahmen, zum Beispiel FCKW-Verbot, eingedämmt worden. Das hat unsere Generation bewirkt. Das Ozonloch ist kleiner geworden, weil wir Gott sei Dank rechtzeitig zur Besinnung gekommen sind. Aber es ist nach wie vor so, dass die Menschheit in Lebensgefahr ist, weil es weitaus noch nicht genug ist.

 

Das heißt, wir Älteren haben es einerseits verbockt, aber andererseits waren wir auch diejenigen, die als erste versucht haben, dagegen anzugehen. Ich kann allerdings nachvollziehen, dass die Jüngeren zu wenig Anstrengungen sehen und teilweise regelrecht verzweifelt sind, das ist auch das Grundmotiv der Letzten Generation.

 

Ich verstehe das total. Ich hatte wirklich lange Diskussionen mit Leuten aus meiner Generation, die den Klimawandel leugnen, die einfach aus ihrer Komfortzone nicht heraus wollen. Ich habe zum Beispiel seit fünf Jahren kein Auto mehr. Und lebe göttlich. Ich brauche keins. Aber umgekehrt möchte ich nicht mit der Moralkeule verfolgt werden, wenn ich zum Beispiel mit meiner wunderbaren Frau vierzehn herrliche Tage auf Madeira verbracht habe. Ich habe auf Facebook ein bisschen was darüber erzählt, da hat mir eine Jugendfreundin reingekübelt: Schämst du dich gar nicht, dass du da Flugmeilen verbrennst und den CO2-Footprint versaust? Nein, ich schäme mich nicht. Und zwar nicht aus Trotz, sondern weil ich sonst viel mache, damit ich ein ordentliches, zukunftsgerechtes Leben führe. Und dann leiste ich mir einmal im Jahr so einen Urlaub. Da mag ich nicht am Pranger stehen dafür.

 

Aufklärung meint im Kern vernunftgeleitetes Denken und Handeln. In einem Deiner Blogbeiträge schreibst Du, die Vernunft wird heute ignoriert und angegriffen. Rassismus und Chauvinismus des Faschismus und Wokeness.

 

Wir haben da wirklich ein großes Problem. Der Begriff Wokeness stammt aus den 30er, 40er Jahren des 20. Jahrhunderts. Da hatte sie eine extrem dramatische Berechtigung, in den USA ging es um Gleichberechtigung, speziell auf der Rassenebene. Da hat die Wokeness ihre Berechtigung, da kann man nichts dagegen sagen. Es hat sich in den letzten paar Jahren aber ganz markant in eine andere Richtung bewegt. Und das macht mir Sorgen, weil das eben genau das Gegenteil von Aufklärung ist. Das ist eine sehr eindimensionale Denkweise und Verhaltensweise. Es gibt Beobachtungen an amerikanischen Universitäten, zum Beispiel im Zusammenhang mit der Critical Race Theory, dass alles, und zwar wirklich alles, was schief geht, auf Rassismus zurückgeführt wird. Das kann man als diskursfähiger, differenziert denkender Mensch nicht hinnehmen. Diese singulären Erklärungsmodelle. Die Welt ist nicht so, dass sie mit einem Erklärungsansatz durchgeknetet werden kann. Und wenn dann da drüben ein Universitätsprofessor in der Literaturgeschichte eine Vorlesung ankündigt, wo er einen Originaltext aus dem 19. Jahrhundert besprechen möchte, in dem das N-Wort vorkommt, dann kostet ihn das seinen Lehrauftrag.

Das geht noch in viele, viele andere Bereiche hinein. Stichwort Cancel Culture. In Hamburg möchte ein Musiker bei einem Konzert auf einem Didgeridoo spielen und wird gecancelt wegen kultureller Aneignung bei den Aborigines. Das Interessante dabei ist, dass die kulturelle Aneignung ja auf beiden Seiten geschieht. Es gibt diesen Begriff der arrogierten Kompetenz (Anm.: anmaßende Kompetenz) und die Menschen, die jetzt in den Didgeridoo-Spieler canceln, wo nehmen die denn ihr Ticket her? Haben die irgendeinen Auftrag von den Aborigines, sich um das zu kümmern? Wer legitimiert die eigentlich?

 

Was denkst Du, treibt diese Menschen an?

 

Mit meinen drei Kindern habe ich eine WhatsApp-Gruppe, da schickt mir meine ältere Tochter einen Link hinein, wo eine junge Frau, so Mitte 30, schreibt, dass sie durch den Zeichentrickfilm In einem Land vor unserer Zeit von Steven Spielberg traumatisiert worden sei. Das ist eine Sauriergeschichte, wo durch einen Vulkanausbruch die Lebensverhältnisse der Saurier vernichtet werden und wo die Mama des Helden Littlefoot stirbt. Der arme kleine Littlefoot muss jetzt den Tod seiner Mutter verkraften und muss sich noch dazu mit seinen Freunden aufmachen, um ein anderes Land zu finden, wo die Lebensverhältnisse noch in Ordnung sind. Und diese junge Frau schreibt nun, sie ist traumatisiert worden, weil die Mama vom Little Food sterben musste. In dem Film. Ich habe den Film auch mit meinen Kindern angesehen damals, wie sie klein waren, und die haben sich an mich gekuschelt, weil sie natürlich auch traurig waren, wie die Mama gestorben ist. Naja, seltsam, was sich die Menschen eben so merken. Es gibt da nämlich auch diese Szene, wo der Littlefoot aus dem Unterholz auf eine schöne Lichtung kommt, und er ruft dann aus: Das große Tal! Und ich habe mir das zu eigen gemacht, wenn ich mit meiner Frau wandern bin. Immer wenn wir auf eine Lichtung kommen, da schaut sie mich schon an … und ich rufe: Das große Tal! Das habe ich mir eben gemerkt.

 

Traumatisiert ist natürlich ein gewichtiges Wort, aber die Frau wurde offenbar einfach von dem Film sehr getriggert.

 

Ja, aber bitte passen wir auf, in welche Schublade wir greifen mit unserem Vokabular. Wenn das ein Trauma hervorgerufen hat, was ist denn heute mit den Kindern in der Ukraine? Oder was ist mit bestialisch massakrierten Kindern in Kriegen? Wie nennen wir das denn dann? Das ist mein Problem, dass das alles so hocheskaliert und dann nicht mehr kontrolliert werden kann. Es fehlen uns die Nuancen. 

 

Unsere Generation hat auch gegen Raketenstationierungen und Atomkraftwerke demonstriert. Denkst Du, dass es heute mehr eskaliert?

 

Ich spüre das und bin erschrocken über diese Entwicklung. Da müssen du und ich und die anderen Kolleginnen und Kollegen aus unserer Generation wahrscheinlich wirklich vor unserer eigenen Tür kehren. Wir sind abgestumpft auf unserem Marsch durch die Institutionen. Wir schauen nicht mehr gut genug hin, da schäme ich mich, dass uns das entglitten ist. Wir haben uns vielleicht zu früh, zu schnell, zu rabiat abgegrenzt von all diesen wirklich schwierigen Dingen.

 

Dann kommt diese hohe Erregung kommt daher, weil viele spüren, die Älteren verstehen es nicht, die wollen es nicht verstehen, die sind unbeirrbar?

 

Ja. Das sagen die ja auch beispielsweise, wenn es ums Klimathema geht. Wir müssen jetzt die Mona Lisa besprühen. Wir müssen eklatante Werte und Kulturgüter, die euch Dumpfgummis was bedeuten, jetzt angreifen, weil ihr sonst nicht hinhört.

 

Höchstmögliche Aufmerksamkeit für ein höheres Ziel?

 

Es ist eine Notwehr, weil wir sonst nicht mehr hinschauen. Die Jungen merken einfach: Verdammt, wir haben es im Guten probiert. Wir haben euch immer wieder darauf hingewiesen. Ihr, die ihr an den Stellrädern und an den Schalthebeln sitzt, ändert etwas.


„Eine der schlimmsten, wenn nicht die allerschlimmste Botschaft: Du verstehst mich nicht.“


Zum Beispiel Greta bei der UN-Vollversammlung mit ihrer netten Botschaft: Hey, Schweinebacken, aufwachen! Was ist mit euch? Ihr seid die, die etwas ändern könnt und auch müsst, und ihr sitzt da und schaut mich da blöd an, ihr kapiert es ja nicht. Das ist ein Aufschrei.

 

Das klingt so, als würden sich da zwei Lager nicht mehr verstehen und nun hat sich alles verhärtet.

 

Da hast du etwas sehr Relevantes gesagt: Wir verstehen uns gegenseitig nicht. Das ist, das weiß ich aus meiner Arbeit als Coach, eine der schlimmsten, wenn nicht die allerschlimmste Botschaft: Du verstehst mich nicht. Die Nettobotschaft, die beim Empfänger oder der Empfängerin ankommt, ist: Du bist doof. Du schaffst es intellektuell nicht, mich nachzuvollziehen. Da sind wir aber jetzt.

Ich gebe dir ein ganz böses Beispiel, wo ich gekämpft habe, auch mit mir selbst, und mich wirklich bemühen wollte, um das zu begreifen. Eine Kundin erzählte, sie habe eine Art Direktorin, die hat ein Pferd und die steht jeden Tag pünktlich um 17 Uhr auf und geht, weil das Pferd geritten werden muss. Die macht das. Egal, ob am nächsten Tag eine Präsentation ist, ob der Kunde kommt, ob das Projekt fertig ist, das ist der wurscht. Sie steht auf und geht, weil sie ein Pferd hat. Ich gebe es ehrlich zu, ich begreife das nicht. In der selben Firma sitzen Mütter, und meistens sind es die Mütter, die diese Aufgabe knacken müssen, nämlich um 17 Uhr bei der Kita zu erscheinen, um die Kinder abzuholen. Leider sind es seltenst die Väter, die das machen. Wenn ich jetzt ein Pferd und ein Kindergartenkind gleichwertig betrachte, dann kippt es für mich aus der Balance, dann stimmt etwas ganz fundamental nicht mehr. 

 

Du hast einen Fragebogen in Deinem Coaching. Eine Frage dort lautet: „Ja oder nein: Ich finde meine Arbeit sinnstiftend.“ Ein Teilnehmer sagte darauf, dass er den Sinn nicht aus der Arbeit zieht, sondern im Privatleben findet. Der Sinn der Arbeit sei es, damit das Privatleben finanzieren zu können. Welchen Stellenwert hat Arbeit in einer Zeit, in der es viele Arbeitsmodelle gibt?

 

Ich fühle mich nicht wohl mit dem Begriff Work-Life-Balance. Das ist ein absurder Begriff, denn wieso darf die Arbeit nicht ein Teil des Lebens sein? Ich weiß schon, wie das zu verstehen ist, trotzdem finde ich den Begriff nicht nützlich und sogar irreführend. Ich glaube, da gibt es diesen Clash of Generations wirklich extrem. Ich bin auch nicht stolz darauf, dass ich meine Kinder so selten gesehen habe, wie ich rot glühend im Agenturgeschäft unterwegs war. Ich bilde mir nichts darauf ein und ich vermisse viele Möglichkeiten, die wir damals nicht hatten. Und wenn ich es noch mal machen könnte, würde ich es auch anders machen. Aber worauf ich immer noch stolz bin und woran ich nach wie vor mit Lust denke, ist, wie schön das war, wenn wir um 17 Uhr auf eine Idee gestoßen sind und dann nicht heimgehen wollten, weil wir schauen wollten: Wie funktioniert das Ding? Dann sind wir geblieben bis 21 oder 22 Uhr oder in Extremfällen bis in die Morgenstunden. Weil wir nicht loslassen wollten, weil es so geil war und weil uns das so fasziniert hat, was da gerade im Kessel brodelte.

 

Das war aber der Grund, warum du Deinen Kindern nicht Gute Nacht sagen konntest.

 

Mir ist das vollkommen klar und trotzdem würde ich heute in dieser Hinsicht auf eine bessere Balance schauen. Ich würde nicht jeden Tag um 17 Uhr nach Hause gehen. Würde ich nicht. Auch heute nicht. Aber ich würde besser darauf achten, dass ich mit einer besseren Taktung, mit einer sensibleren Regelmäßigkeit meine Kinder ins Bett bringe, ihnen eine Gute-Nacht-Geschichte vorlesen kann. Darauf würde ich viel mehr aufpassen, aber ich würde mir diese Highlights nicht abdrehen. 

Ich glaube einfach, wir müssen uns aufeinander zubewegen. Aber beide Seiten. Es wird sicher weiter Situationen geben, wo wir sagen: Lass uns das Eisen jetzt schmieden, jetzt ist es so schön heiß, es glüht gerade so toll, jetzt machen wir was Geiles draus. Da werden wir uns mehr bemühen müssen, diese Sinnstiftung zu vollbringen, damit wir die Jüngeren mitreißen.

 

Die Jüngeren also für die „Work“-Seite begeistern? Auch viele Ältere erkennen zunehmend einen Wert darin, sich nicht nur auf die Arbeit zu konzentrieren.

 

Einige meiner Kunden wundern sich, wenn um 18 Uhr keiner mehr in ihrem Laden hockt, wenn sie durch die Räume gehen. Das ist ein Reflex und eine Schablone. Das ist auch falsch. Der alte Paracelsus, der große Mediziner, hat uns den Spruch hinterlassen Die Dosis macht das Gift. Wir müssen auf die Dosis schauen. Wann wird es toxisch und wann ist es gesund? Du kannst dich mit Vitamin B auch umbringen. Wenn du ein Kilo Ascorbinsäure auf einmal einwirfst, brennst du dir die Magenwände durch und du bist hinüber. Aber eine Messerspitze in der Erkältungszeit ist gut für die Abwehrkräfte. Wir sollten aus diesen extremen Schützengräben heraus. Es ist nicht das Allheilmittel, jeden Tag um 17 Uhr den Stift fallen zu lassen. Aber es ist genauso verkehrt, eine Arbeit nur darum geil zu finden, weil wir bis drei Uhr früh daran herumgeschraubt haben.

 

Das hat viel mit Führungsstil zu tun. Man kann es aber auch strukturell lösen, Stichwort Teilzeitmodelle. Gerade während und nach Corona sind viele neue Arbeitsmodelle überhaupt erst denkbar geworden.

 

Ich beobachte das sehr, sehr intensiv, weil die Pandemie uns gezwungen hat umzudenken. Das ist vielleicht auch der rote Faden, der sich durch all die bisher besprochenen Themen durchzieht. Wir lernen unter Schmerzen, nicht mehr aus höherer Einsicht. Es wäre wohl wider die Vernunft zu erkennen, dass da was nicht richtig ist, nein – wir müssen es mit dem Baseballschläger auf die Nase geschlagen bekommen. Auch die Pandemie hat uns mit dem Baseballschläger beigebracht, dass Home Office und Teilzeitarbeit grundsätzlich nicht Teufelswerk sind und dass das durchaus produktiv sein kann. Aber auch hier gilt: Wenn wir vom einen Extrem ins andere kippen, ist es wieder falsch. Ich erlebe das serienweise, dass jetzt Leute aus den Home Offices nicht mehr zurückwollen. Und dass die Arbeit darunter leidet. Gerade im Agenturbereich.


„ Wo ich am Stand durchdrehe. Was Menschen wie Simon Sinek zum Beispiel Millionen Followern erzählen.“


Wenn du dich erstmal von zu Hause einwählen musst in einen Videocall, anstatt dass man eben mal aufsteht, zum Kollegen oder zur Kollegin rüber geht und sagt: Schau, das geht mir gerade durch den Kopf, was hältst du denn davon? Oder: Komm mal, ich habe da was, das musst du dir anschauen. Da geht die Post ab. Das ist total schön und da entsteht ja auch was. Das geht natürlich den Bach runter, wenn alle zu Hause hocken.

 

Was hältst du von Hybridmodellen?

 

Viel. Alles. Ich bin ganz dafür, zwei, maximal drei Tage sind wir miteinander im gleichen Büro. Und haben physisch die Möglichkeit, uns auszutauschen. Und die anderen zwei oder drei Tage sind wir zu Hause. Wunderbar. Oder Schichten, Turnusdienste. Wenn du in ein Krankenhaus gehst, da löst sich das Pflegepersonal doch auch ab. Diese ganzen Modelle gibt es ja längst. Na, ich käme da jetzt vom Hundertsten ins Tausendste. Du wirst mich schon einbremsen, wenn es dir zu viel ist. (lacht) Was mich manchmal verrückt macht, ist, dass wir längst Lösungsmodelle hätten. Die werden nur nicht angewendet, weil sie alt sind. (Wir kommen tatsächlich immer wieder vom Hölzchen aufs Stöckchen, und ich muss zugeben, dass mich Hannes besonnene Begeisterungsfähigkeit mitreißt.) 

 

Spannend, das gibt es alles bereits?

 

Wenn du zum Beispiel an Führungsmodelle denkst, kooperativer Führungsstil. Der besteht aus ganz wenigen, aber relevanten Komponenten. Du darfst als Führungsperson das Ziel vorgeben. Du musst als Führungsperson den Weg zum Ziel freilassen. Du musst aber, und das wird am häufigsten vergessen, regelmäßige Milestone Meetings zur Überprüfung machen: Stimmt die Richtung, stimmt die Geschwindigkeit, stimmt die Qualität? Und weil das nicht gemacht wird, kippt der ganze Rest natürlich über die Tischkante. Dann heißt es, kooperativer Führungsstil ist scheiße.

Oder dann kommen die großen Gurus, gießen den alten Wein in neue Schläuche und verkaufen das als die megamörder Innovation. Wo ich am Stand durchdrehe. Was Menschen wie Simon Sinek zum Beispiel Millionen Followern erzählen. Das ist, mit Verlaub, Paul Watzlawick aus den 60er Jahren. Nur, dass es nicht dazu sagt. Er verkauft es als seinen eigenen heißen Scheiß. Oder Friedemann Schulz von Thun. Es gibt ja alles schon. Ist nur halt alt. Mich macht das wütend. Es ist unsauber. Ist einfach eine Riesensauerei.

 

Nicht nur die Jüngeren, auch Ältere sagen inzwischen: Gar nicht so doof, vier Tage, nur sechzig oder achtzig Prozent. Aber das hat natürlich auch volkswirtschaftliche Effekte. Es wird weniger gearbeitet, weniger Abgaben und Steuern gezahlt, weniger konsumiert. Der Generationenvertrag sagt, dass der arbeitende Teil der Bevölkerung den Teil finanziert, der in Ausbildung oder in Rente ist. Gibt es auch einen Solidarpakt zwischen den Generationen auf einer anderen Ebene, unabhängig von finanziellen Aspekten?

 

Ich habe wirklich meinen Teil des Generationenvertrags eingehalten. Ich habe die Renten meiner Eltern finanziert, ich habe die Ausbildung der jetzt im Berufsleben Stehenden finanziert. Also kommen wir wieder zu dem zurück, was wir schon hatten. Ja, meine Generation hat durch ihr Verhalten, durch die Sorglosigkeit und Verantwortungslosigkeit die Umwelt ruiniert und das Klima gefährdet. Auf der Ebene habe ich den Generationenvertrag gebrochen. Stimmt. Aber wenn mir jetzt die nachfolgende Generation sagt: Weißt du was, auf deine Rente wird geschissen, dann drehe ich durch. Das geht nicht. Wir müssen uns wieder auf den Kontext einigen. Nehmen wir unbedingt die gesamthafte Verantwortung aller Generationen für ein Überleben der Menschheit in den Generationenvertrag mit auf. Es ist eine Überlebensfrage. Und da setze ich mich sofort hin mit allen, die das wollen und diskutiere. Wie kriegen wir das besser geregelt?

 

Diskussion und Dialog sind die Grundlage fürs Verstehen, für ein gutes Miteinander? Dafür braucht es in erster Linie wohl viel Neugier und Offenheit.

 

Genau. Ich weiß nicht, ob das von Tucholsky kommt, ist mir jetzt wurscht. Nämlich „Toleranz ist der Verdacht, der andere Mensch könnte Recht haben.“ Der Zugang ist einfach gut. Diesen Zugang sollten wir wieder Wirklichkeit werden lassen. Da haben wir uns traurigerweise lebensgefährlich von entfernt. Wenn ich Angst haben muss, dass die nachfolgenden Generationen keine Bereitschaft mehr haben, meine Rente zu zahlen, dann kann ich mir vorstellen, wie groß die Angst der nachfolgenden Generation ist, ob sie noch Luft genug haben zu atmen und ob ihnen nicht wirklich bald physisch das Wasser bis zum Hals steht. Es braucht beide Seiten.

 

Warum fehlt dieser Dialog? Sehen wir Vieles nur noch schwarzweiß, so wie im Digitalen die Grundlage letztlich Einsen und Nullen sind? Jetzt mal eine gewagte These: Bringt uns das Digitale von seinem Wesen her vermehrt dazu, verstärkt in Entweder/Oder zu denken? 

 

Davon bin ich komplett überzeugt, weil die Menschen nicht mehr in Betracht ziehen, dass das Leben nicht digital ist, sondern analog stattfindet. Das Leben besteht nicht aus Schwarz und Weiß, sondern aus Grautönen, Farbklecksen, Nuancierungen und diesen liebevollen Blick auf das Feinstoffliche. Den haben wir uns abgewöhnt, weil wir in Entweder/Oder-Kategorien ticken anstatt in Sowohl-als-auch-Optionen. Das ist Coaching-Grundkurs erste Stunde. Das lernst du da. Einfach mit dieser Gewissheit zu leben, dass nichts fix ist. Dass der Verdacht gelten muss, es könnte alles auch ganz anders sein. Und mit dem Zugang gehst du an die Arbeit.

 

Ich denke, meine Kinder, die natürlich auch viel auf Social Media unterwegs sind, würden sagen: Ja, wieso? Ich habe Millionen Nuancen auf Social Media. Ich treffe da meine Freunde ebenso wie ich sie auch in der realen Welt treffe. Vieles findet einfach nur auf einer anderen Ebene statt.

 

Aber deine Kinder, genauso wie meine, die leben in Blasen. Genau wie wir. Das kann mir kein Mensch erzählen, dass das ganze Spektrum da abgebildet wird. Ganz im Gegenteil, das ist viel mehr eingedampft und reduziert, als wenn du jetzt rausgehst auf die Straße und dich umschaust. In jeder U-Bahn hast du mehr Spektrum als auf Insta oder auf Tiktok.


„Es gab Zeiten, da war man sich nicht sicher, ob man etwas sagen soll. Aber bevor irgendein Blödsinn rauskam, hat man es lieber gelassen. Dieser Filter ist weg.“


Letztens war ich mit einem guten Freund in einem Restaurant. Und da hat er gesagt: Schau mal, die Frau am Nebentisch hat eine wirklich scheußliche Frisur. Aber ich werde den Teufel tun, jetzt rüberzugehen und zu ihr zu sagen: Sag’ mal, ist dir schon mal aufgefallen, was du für einen Besen auf dem Kopf sitzen hast? Wie scheiße du aussiehst? Macht man nicht.

 

Äh …

 

Du weißt, wie es weitergeht. Auf Social Media hauen wir uns dieses nasse Tuch um die Ohren. Da schreiben wir uns: Schämst du dich gar nicht, wie scheiße du heute aussiehst?

 

Social Media verschärft aus deiner Sicht die Konfrontation auf einer Ebene, die weit weg ist von Dialog und von Toleranz?

 

Unbekümmert im besten Sinn, aber unverschämt im Schlimmsten Fall. Es fallen die Barrieren. Wir bemühen uns nicht mehr. Heidi Kastner, eine ganz tolle österreichische Psychoanalytikerin, die auch als Gerichtsgutachterin arbeitet, der ist wirklich nichts Menschliches mehr fremd durch ihre Arbeit. Die hat ein Buch über die Dummheit geschrieben. Und das empfehle ich sehr. Und was sagt sie da drinnen? Da schreckst du dich! „Die Dummheit schämt sich nicht mehr heute.“ Es gab Zeiten, da war man sich nicht sicher, ob man etwas sagen soll. Aber bevor irgendein Blödsinn rauskam, hat man es lieber gelassen. Dieser Filter ist weg.

 

Nichts sagen wäre aber nicht hilfreich, wenn wir doch den Dialog suchen.

 

Ich hatte letztes Jahr eine schlimme Zeit mit meinem Rücken und da habe ich zum Glück einen ganz hervorragenden Physiotherapeuten gefunden. Ich liege da also bäuchlings auf der Massagebank, Kopf in diesem Loch mit Blick zum Boden, und der steht irgendwo hinten und fängt genial an, an meinem Rücken rumzudrücken. Da erzählt er mir auf einmal, dass er ein vehementer Impfgegner ist, dass er an den Klimawandel nicht glaubt und dass er bei der nächsten Wahl die FPÖ wählt, also was bei euch die AfD ist.

 

Da verkrampfte sich dein Rücken ein wenig?

 

Ja, denk mal, wie es mir da ging. Ich schaue zum Fußboden runter und denke mir: Na, jetzt nur nichts Falsches sagen, wer weiß, wo der dann hindrückt! Habe nur gesagt, wenn Sie nicht impfen wollen, ist das Ihr gutes Recht. Aber wenn Sie mit der FPÖ demonstrieren gehen, da ist Ihnen hoffentlich klar, dass Sie damit Faschisten auf der Straße sind. Stört Sie das nicht? Nein, das macht ihm nichts, Hauptsache er hat da eine Partei, die seine Interessen im Parlament vertritt. Und wenn das halt die Faschisten sind, kann er auch nichts machen.

Wie ich dann wieder runterkam von der Pritsche und sozusagen in Sicherheit war, habe ich ihm gesagt, dass ich da fundamental woanders stehe und dass wir damit jetzt zurechtkommen müssen. Ich wolle aber nicht mehr darüber reden, weil ich nur seine Dienstleistung haben und nicht mit ihm politisieren will. Das haben wir dann gut geschafft.

 

Immerhin ein kurzer Dialog.

 

Und das müssen wir natürlich in einer strukturierten, moderierten, vernunftbegabten Form tun. Und da wäre der Leitspruch Kants, sapere aude, also habe den Mut, dich deiner Vernunft zu bedienen, schon notwendig. Natürlich könnte ich meine Arbeit nicht nur kopfgesteuert machen. Ein weitaus größerer Teil meiner Arbeit als Coach besteht aus Spüren, aus Empathie, aus Rechtshirnigkeit, wo die Emotionen sitzen. Ich wäre arbeitslos und pleite, würde ich diese Emotionalität nicht ins Spiel bringen und mit meinen Gesprächspartnerinnen auch ausreizen. Das hilft mir enorm. Aber ich kann nicht unvernünftig sein. 

 

Du kannst sehr emotional sein. Bei aller Vernunft empfinde ich dich als einen ausgeprägten Bauchmenschen.

 

Das bin ich auch. Und das leiste ich mir. Es ist erlaubt und auch notwendig, die Vernunft mit der Emotion in Verbindung zu bringen. Ich will da jetzt nicht noch so ein Fass aufmachen. Aber das ist nämlich insofern besonders wichtig, wenn wir zum Beispiel über KI nachdenken. Dass wir das, was uns als Menschen von der künstlichen Intelligenz unterscheidet, Klammer auf: noch unterscheidet Ausrufezeichen, dass wir das hegen und pflegen. 

Ich habe es aufgrund meiner anstrengenden Gesundheitsgeschichte im vergangenen Jahr immer wieder erlebt und mir gedacht, ich müsste eigentlich als Coach ein neues Produkt erfinden, nämlich Kommunikation für Ärzte und Ärztinnen. Die KI kann ja vieles einfach viel genauer erkennen, als wenn du hinter einem Röntgenschirm stehst vor so einer Aufnahme. Die KI sagt dir alles ratzfatz. So, aber wer erklärt jetzt dem Patienten oder der Patientin, was los ist und was bevorsteht? Du kommst vielleicht nicht mehr lebend zurück, keine längeren Urlaube mehr und solche Diagnosen. Ich möchte da eine Begleitung bekommen und deswegen bin ich so fest davon überzeugt, dass die Zulässigkeit des Bauchs eine Notwendigkeit wird, weil wir sonst unser letztes Reservat gegenüber der künstlichen Intelligenz aufgeben. Und das wäre ja schade. Ist ja auch dumm.

 

Coaching mit KI wird es also nicht geben?

 

Doch. Gibt es schon und das irritiert mich auch ehrlich gestanden. Ich habe jetzt mehrfach Situationen gehabt, wo mir Kunden gesagt haben, dass sie so einen Coaching-Bot einrichten möchten. Den programmieren sie mit den gängigsten Ratgeberimpulsen. Das ist ja auch kein Problem, digital verfügbare Ratgeberliteratur gibt es tonnenweise. Ich habe mir gedacht, davor fürchte ich mich jetzt mal nicht. Denn was dieser Bot definitiv nicht können wird, ist, sich in eine Person hineinzuspüren. Diese feinstofflichen Schwingungen richtig zu erfassen, da bin ich safe.

 

Meinst du nicht, dass die KI irgendwann so weit sein wird? 

 

Ich bin da vielleicht lustvoll old school. Vielleicht lässt sich sowas doch aufrecht erhalten, dass der Zauber einer Idee doch noch eine gewisse menschliche Faszination generieren kann. Wo eine durchaus ordentliche, aber jetzt nicht über den Mainstream hinausragende KI mitkann. Ich folge jetzt auf LinkedIn dem John Haggerty. Da geht einem schon das Herz auf. Was der so schreibt.

 

Was berührt dich da besonders?

 

Der ist eben nach wie vor so old school und hält den Wert einer Idee so hoch. Und das ist halt die Diamantwährung in der Kommunikation. Wie mein zutiefst verehrter, leider nur kurz amtierender Exchef Martin Puris, der einzige und letzte Kreative als Chairman der damaligen Agentur Ammirati Puris Lintas. Der geht in die gleiche Richtung. Klar kann man da sagen, alte Männer. Weiß sind sie auch noch, schrecklich. Aber das ist ja egal, welche Hautfarbe die haben und wie alt die sind. Sie sagen das Richtige. Ich bin als ganz junger Berater in der Kreativbranche von sehr strengen und zum Teil natürlich völlig durchgeknallten Kreativchefs regelrecht gefoltert worden. Wehe, du kannst nicht unterscheiden zwischen Idee und Umsetzung …

 

Der Dreiklang Strategie, Idee, Umsetzung …

 

… und wie ich dann selber an die Schalthebel durfte, habe ich mit großer Vehemenz verlangt, dass gerade die Beratungsleute diesen Unterschied morgens um drei Uhr im trunkenen Zustand aufbringen können. Und dann mussten Onepager geschrieben werden für jeden Kunden, eine Rubrik war Idee und die andere war Execution. Und das musste richtig ausgefüllt sein. Ich liebe so was. Da kann ich mich heute noch drüber freuen.


„Ich weiß noch, wie wir den da sitzen sehen und uns fragen: Was hat denn der geraucht?“


Als Österreicher bin ich vielleicht darum auch so darauf fokussiert, weil wir die höchste Plakatdichte der Welt haben bezogen auf die Landesfläche. Ein Plakat ist der ultimative Härtetest für eine Idee. Diese Kraft der Reduktion, oder wie es mein sehr charismatischer Chef in der GGK, Hans Schmidt, zu sagen pflegte: Das Plakat ist eine öffentliche Provokation. Aber diese Chance gönnen sich heute viele nicht mehr!

 

Provokation und Aufmerksamkeit entstehen nur auf Grundlage einer starken Idee, eines reduzierten kreativen Sprungbretts?

 

Ja! Gut, ich habe aufgehört nach 20 Jahren Werbung, weil es mir nicht mehr spannend erschien zu kommunizieren, dass im Snickers jetzt zehn Prozent mehr Erdnüsse drin sind oder dass der Golf einen beleuchteten Aschenbecher hat. Das hat mich nicht mehr gejuckt. Ein Kunde hat uns wirklich mit Rührung in der Stimme erzählt, dass im neuen Sheba jetzt noch feineres Fleischchen in noch raffinierteren Sößchen drin ist. Ich weiß noch, wie wir den da sitzen sehen und uns fragen: Was hat denn der geraucht? Eine Milliarde Menschen wacht jeden Tag mit Hunger auf und geht hungrig schlafen und wir sollen jetzt der staunenden Öffentlichkeit von Fleischchen und Sößchen für Katzen erzählen? Da graust es mir, das kriege ich nicht auf die Reihe. Ja, das war’s dann. Da habe ich mir gedacht, es darf auch auch mal Schluss sein. Aber ich halte dieses prickelnde, brodelnde, heiße, flirrende Biotop, wo Leute sich zusammentun und sich was ausdenken schon noch für eine der schönsten Gegenden der Welt. Der damalige Europachef von der BBDO, den ich sehr verehrt habe, der hat immer gesagt: Advertising ist the most sexiest thing you can do with your clothes on. Da kann ich nur sagen: stimmt schon.

 

Dann habe ich jetzt spontan eine abschließende Frage: Stell’ Dir vor, da kommt ein Briefing auf den Tisch: Machen Sie mal eine Kampagne zum Thema „das liebevolle Annehmen des Andersseins“. Ziel ist, die Generationen zusammenbringen und einen Dialog herzustellen. Wie lautet das Creative Springboard?

 

Als Coach würde ich empfehlen, alles auf Perspektivenwechsel zu setzen. Mhm. Mhm. (Hannes grübelt etwas, man spürt die Freude am Herumdenken und Abwägen). Also der Zauber, der mich aus dieser Aufgabenstellung anspringt, ist, sich gegenseitig behilflich zu sein, in die Perspektive des anderen hineinzufinden. Mhm. Sich einen anderen Hut aufzusetzen. Das kann ich mir als Ansatz vorstellen. (Hannes kommt immer mehr in Schwung …) Also sagen wir mal, wir hätten jetzt eine Coachingsituation, du und ich. Dann könnte ich dir sagen: Stell dir vor, wir machen jetzt mal einen virtuellen Tag der offenen Tür. Und du darfst Gäste einladen. Solche, die dich mögen, aber auch solche, die skeptisch sind. Also, der Gedanke ist: „Tag der offenen Tür“.

 

Ich glaube, so schnell wurde selten ein Springboard entwickelt. Ein schönes Bild, man weiß sofort, was gemeint ist. Da kommen halt ganz viele zusammen …

 

… und alle sind willkommen.

 

Dr. Hannes Sonnberger, Jahrgang 1958, hat in Wien Politikwissenschaft und Publizistik studiert. Nach 20 Jahren als Führungskraft in der Werbung, davon 14 Jahre als Geschäftsführer bei Ogilvy und Lintas sowie als CEO bei BBDO Wien. Seit 2005 arbeitet Hannes als zertifizierter Wirtschafts-Coach und betreut Führungskräfte in Deutschland und Österreich. Er veröffentlichte verschiedene Bücher, hat drei Kinder und lebt mit seiner Frau in Wien.


Hungry Heart und Nudeln

Lieblingssongs/-interpretInnen:

Hungry Heart, Bruce Springsteen

Johnny B. Goode, Chuck Berry

Waun die Musik vuabei is, Kurt Ostbahn 

Lieblingsbuch/-Podcast:

Mister Vertigo von Paul Auster

Lieblingsfilm/-serie:

Once Upon a Time in America von Sergio Leone

Lieblingsmarke:

Banana Republic

Lieblinsgreiseziel:

Tofino auf Vancouver Island

Lieblingsessen:

Nudeln jeglicher Art – Hauptsache, von meiner Frau zubereitet

Lieblingsspruch:

The solution has nothing to do with the problem.

(Steve de Shazer)

Unterirdisch finde ich …

… Chauvinismus, Fremdenhass, Faschismus. 

Ich chille am besten, wenn ich …

… auf der Couch, mit einem Buch und einer Tasse Tee.

Meine größte Freude ist es, …

… an meinem Geburtstag meine Frau und meine Kinder in die Arme schließen zu können.

 


©Bild: Johnny McClung auf Unsplash