Macht endlich Schluss mit Seniorennmarketing!

Alte Menschen sind nicht aus der Gesellschaft verdrängt, sondern in deren Mitte anzutreffen, und sie erreichen ein immer höheres Alter. Alte Menschen sind in hohem Maße sichtbar, in Zügen, auf Kreuzfahrten, in Fitnessstudios, in Weiterbildungsveranstaltungen, in Konzerten und Ausstellungen. Städte und Gemeinden überbieten sich mit Angeboten für alte Menschen, und die Reise- und Konsumgüter-Industrie hat das Alter als Marktlücke entdeckt, welches mit Senioren Marketing bewirtschaftet werden soll.  […]

 

Im Gespräch mit alten Menschen gewinnt man häufig den Eindruck, dass es Ihnen zwar nicht schlecht geht, aber gleichwohl schlechter, als es ihnen eigentlich gehen könnte.  […]

 

Infrage steht denn auch nicht das, was gemacht wird, sondern warum es gemacht wird. Und hier zeigt sich die Wirkung des Seniorenmarketings: weil viele Menschen im Alter noch über relativ viel Geld verfügen, sind sie als Marktsegment entdeckt worden. Man ist so alt, wie man sich fühlt. Dieser Spruch ist weniger harmlos, als es den Anschein hat. Das erkennt man leicht, wenn man einmal genau hinhört, wer nicht so redet. Man ist so alt, wie man sich fühlt, das sagt der fidele Senior, der mit dem Gleitschirm auf dem Gipfel eines Berges steht, oder die Seniorin, die sich an der Universität für einen Kurs in Kunstgeschichte eingeschrieben hat. Niemandem, der sich so alt fühlt, wie er ist, kommt dieser flotten Spruch über die Lippen.  […]

 

So gelingt es dem Senioren Marketing, Storys vom Altsein zu erzählen, die geprägt sind von den Bildern der Jugend. Die Wirkung ist fatal: Wer heute alt ist, darf es nicht sein und soll stattdessen sein, wie er vor Jahrzehnten gewesen ist.… Damit werden alte Menschen in ihren Lebensentwürfen fremdbestimmt – sie leben ein Leben, von dem das Marketing oder die Gesellschaft will, dass sie es leben, das aber häufig immer weniger ihr Leben ist. 

Wer nämlich behauptet, dass sich das Alter in nichts von der Jugend unterscheiden darf, entwertet das Alter und macht es alten Menschen schwerer, den eigenen Sinn ihrer Lebensphase zu erkennen und bewusst zu leben.… Schaut man überwiegend auf die mit dem Alter einhergehenden Defizite, so verkürzt man diese Lebensphase, die in ältester Zeit als Segen gepriesen wurde, auf die mit ihr verbundenen Verluste. 

Dabei gerät aus dem Blick, was dem Verlust Zugewinn gegenüber steht. Der Verlust in Kraft und Energie, welche sich beispielsweise in der Verlangsamung zeigt, ist nur dann ein Defizit, wenn man das aus der Jugend oder den mittleren Jahren gewohnte Tempo beibehalten will.… Kontemplation und eine weitere temporale Lebensform, die der Erinnerung, welche durch eine solche Auszeit möglich werden, sind jedoch in der Gegenwart nicht angesagt. Wer sich der äußeren Aktivität enthält und das Erlebte erinnernd wiedererlebt und -belebt, wird mit despektierlich Zeitmetaphern bedacht: Er ist „aus der Zeit gefallen“, oder „er sieht alt aus“.  […]

 

Worauf es also ankommt, ist eine Selbstsicht. In diesem Sinne scheinen alte Menschen weniger Freizeit und Unterhaltungsangebote zu bedürfen als der freien Wahl zu ihrem Lebensentwurf. Wer nach einem langen und arbeitsamen Leben im Alter die Sehnsucht nach Ruhe, nach Langsamkeit und Bei-sich-sein den Angeboten zur Zerstreuung vorzieht, der darf sich deshalb nicht abgewertet empfinden müssen.  […]

 

Wenn es gelingt, im Alter endlich sein Leben zu leben, dann wird dieser Lebensphase zur Chance.

 

©Text: FAZ, 20.01.2020 | ©Foto: Nigel Tadyanehondo auf Unsplash