Die soziale Marktwirtschaft hat Reformbedarf

Digitale Revolution, demographischer Wandel und Geopolitik fordern die soziale Marktwirtschaft. Sie bleibt die Ordnung der Wahl – aber sie muss sich anpassen.

 

Die größte Kraft der Veränderung in der Menschheitsgeschichte ist weder der weitausgreifende gesellschaftliche Entwurf noch mutiges politisches Handeln. Die größte Kraft der Veränderung ist der technische Fortschritt, wie zuletzt der Ökonom Oded Galor in seinem vor gut einem halben Jahr auch in deutscher Sprache erschienenen bravourösen Buch „The Journey of Humanity - Die Reise der Menschheit durch die Jahrtausende“ eindrucksvoll beschrieben hat. […]

 

Die Idee, eine freiheitliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung bedürfe einer Flankierung durch einen Regeln setzenden und garantierenden Staat, fand Resonanz. In Deutschland fand sie ihre Verwirklichung in der Sozialen Marktwirtschaft, die mit einigen Überzeugungen brach. So wirkt von allen Elementen der Sozialen Marktwirtschaft neben dem Plädoyer für freie Preise die Kampfansage an wirtschaftliche Macht mit Blick auf die deutsche Tradition, die ja zu einer Idealisierung von Macht neigte, im Nachhinein am bemerkenswertesten. […]

 

Zusammen mit dem Boom des Wiederaufbaus nach dem Krieg entstand ein durch nachhaltige Produktivitätszuwächse gestütztes kräftiges Wirtschaftswachstum, dessen Dynamik eine Verteilung seiner Früchte auf Unternehmen und Beschäftigte erlaubte. Ludwig Erhards Überzeugung, das Soziale in der Marktwirtschaft bestehe vor allem in den wachsenden Konsummöglichkeiten einer arbeitsamen Bevölkerung, sah sich in diesem Umfeld bestätigt. […]

Doch ausgerechnet zu einer Zeit, als sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen verschlechterten, änderten sich auch die Präferenzen vieler Menschen. Sie wollten nicht nur arbeiten, sondern auch das Leben genießen.

Die Auflösung traditioneller Bindungen an Institutionen – Familie, Kirche, Parteien, Vereine – begann damals; mittlerweile hat sie sich deutlich fortgesetzt. Produktivitätszuwächse wurden häufiger in Form von Arbeitszeitverkürzungen ausgezahlt. Mit dem nachlassenden Wirtschaftswachstum und den sich ändernden individuellen und gesellschaftlichen Präferenzen nahmen die Ansprüche und Erwartungen an einen Staat zu, dessen Gestaltungsfähigkeit nicht an seine Gestaltungswilligkeit heranreichte. Der Staat überforderte sich. Mit den Fünfzigerjahren hatte diese Welt immer weniger zu tun.

 

Heute ist längst die nächste Revolution unterwegs, die das Leben der Menschen über technischen Fortschritt ähnlich stark verändern könnte wie seinerzeit die Industrielle Revolution: Die digitale Revolution verändert nicht nur Produktionsprozesse in der Wirtschaft, wo sie tradierte Geschäftsmodelle bedroht und die Aussicht auf neue Geschäftsmodelle ermöglicht. […]

 

Auch unter liberalen Ökonomen ist die Ansicht weitverbreitet, dass Menschen, die in einem solchen Prozess ihren Arbeitsplatz verlieren, nicht nur mit Geld geholfen werden sollte, sondern dass der Staat ein Interesse haben sollte, bei der Bildung neuer beruflicher Qualifikationen zu helfen. Wenn viele Menschen dennoch nicht den Weg in den Arbeitsprozess finden, entsteht ein erhebliches Enttäuschungspotential. Gleichzeitig sollte eine Knappheit an qualifizierten heimischen Arbeitskräften Anlass für eine an den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts ausgerichtete Einwanderungspolitik geben, die viele andere Länder seit Jahren verfolgen, die in Deutschland aber bisher nicht zielgerichtet auf der Agenda steht. Es wird erheblicher Anstrengungen bedürfen, die daraus entstehenden gesellschaftlichen Konfliktpotentiale auf eine vernünftige Weise zu managen. 

Der demographische Wandel wird noch in anderer Hinsicht zu einer Herausforderung für die kommenden Jahrzehnte. Alternde Gesellschaften neigen zu einem strukturkonservativen Verhalten, weil sich ein wachsender Teil der Wähler in einer Altersgruppe befindet, in der eine notwendigerweise nicht genau vorhersehbare Transformation eher als Bedrohung eines vorhandenen Status denn als eine Chance für die eigene Zukunft begriffen wird. So lässt sich die in Deutschland in jüngerer Vergangenheit betriebene Politik, Sozialleistungen für ältere Menschen auszuweiten, die Modernisierung wichtiger Infrastruktur aber gleichzeitig zu vernachlässigen, als Ausdruck einer für alternde Gesellschaften typischen Präferenz verstehen. Das Ergreifen von Chancen, die jede Transformation auch bietet, gelingt am ehesten jungen, gut ausgebildeten Menschen.

 

Die Demographie wirkt sich noch in anderer Hinsicht aus: Bis zum Jahre 2035 werden in Deutschland rund sieben Millionen Arbeitskräfte aus demographischen Gründen verloren gehen. Gelingt es nicht, diese Lücke durch eine Kombination von technischem Fortschritt und Einwanderung zu schließen, wird sich das wirtschaftliche Wachstumspotential Deutschlands noch weiter reduzieren. Schon heute beträgt das jährliche Potentialwachstum kaum mehr als 1 Prozent – was angesichts der demographie- und klimabedingt absehbaren finanziellen Belastungen erschreckend wenig ist und eine Vorstellung von den gewaltigen Aufgaben gestattet, die auf Deutschland warten.

 

©Text: FAZ, 15.12.2022 | ©Foto: John Moeses Bauan auf Unsplash